Reflexionen nach Besuch einer “Listening Bar”

Neulich war ich auf Geschäftsreise in London: Am Dienstag erzählte ich Finanzberatern in Mayfair dass es nicht ausreicht, Menschen reicher zu machen – sie sollten sich überlegen, wie sie ihre Kunden glücklicher machen. Und am folgenden Tag lieferte ich eine Einführung in die verhaltensorientierte Finanzmarktforschung (oder das, was man im Englischen Behavioural Finance nennt) für eine andere Finanzfirma.

Am Abend dazwischen ging ich in den zwischen Hackney und Islington gelegenen neuen Trendstadtteil Dalston, zu einer Listening Bar. „Brilliant Corners“ ist benannt nach einem Album des New Yorker Jazz Pianisten Thelonious Monk. Der Laden wird geführt von zwei Brüdern, Einwanderer aus Indien, deren Eltern sich für ihre Söhne eigentlich eine Kariere als Anwälte erhofften. Das ging lange gut: Die Brüder studierten Rechtswissenschaften, bekamen Jobs als Anwälte, aber dann… entdeckten sie den Jazz.

Sie hörten von dem Trend der Listening Bars aus Japan – wo Menschen zusammen kommen um Platten, insbesondere Jazzplatten, zu hören. Also gründeten sie Brilliant Corners, eine eklektische Mischung aus Jazz-Club (mit hochwertigen Lautsprechern, Turntables und DJ-Sets) und japanischem Restaurant. Ich war gespannt.

„Zuhören“ finde ich ein faszinierendes Thema. Es wird uns eigentlich nie beigebracht, wie man richtig zuhört. Es gibt hunderte Bücher zum Thema „Sprechen“ oder „Rhetorik“. Man kann lernen Musik zu machen. Aber es gibt kaum etwas zum Thema „Zuhören“.

Während meines Studiums – ich studierte Empirische Kulturwissenschaften in Hamburg, später Europäische Ethnologie in Berlin – lernte ich einiges über die unterschiedlichen Dimensionen des Zuhörens. Zum Beispiel kann man zuhören, um auf eine Gelegenheit zu warten, selbst etwas sagen zu können. Man kann zuhören, um festzustellen, was Menschen auf einer tieferen Ebene sagen. Man kann zuhören, um festzustellen, was Menschen nicht sagen, wenn sie etwas sagen.

In der empirischen Kulturwissenschaft wurde einem beigebracht vor allem zu hören, was die Leute als normal empfinden. Zum Beispiel: Wenn jemand sagt „Frauen gebären Kinder“ dann geht man davon aus, dass es biologisch und gesellschaftlich als normal empfunden wird, dass Frauen diejenigen sind, die schwanger werden und Kinder gebären. Dies ist auf die biologische Tatsache zurückzuführen, dass Frauen mit Gebärmutter und Eierstöcken ausgestattet sind und somit die Fähigkeit haben, schwanger zu werden und Kinder zu gebären. Gesellschaftlich wird diese Rolle traditionell den Frauen zugewiesen und als ihre Hauptaufgabe angesehen.

Es gibt Kulturen in denen das Zeugen von Kindern als eine kollektive Aufgabe betrachtet wird, bei der nicht nur die Eltern, sondern auch andere Mitglieder der Gemeinschaft, wie Großeltern, Onkel, Tanten oder Freunde, beteiligt sind. In diesen Kulturen wird das Kinderkriegen nicht allein auf die biologischen Eltern beschränkt, sondern als eine Verantwortung der gesamten Gemeinschaft betrachtet.

Im Bereich Finanzplanung wird es als normal empfunden, dass man ein Drei-Stufen-Leben lebt: Zuerst kommt die Ausbildung, dann kommt die Karriere oder das Arbeitsleben, dann der Ruhestand. Diese Annahme ist eine historisch neue und einmalige. Wie ich in meinem Buch schreibe: Früher war es normal eine Werktätigkeit auszuüben, bis man tot umfiel. Heute gilt es als normal, dass man am Ende des Arbeitslebens noch eine Phase des Ruhestands erlebt. Diese Annahme verursacht Stress – auf makroökonomischer Ebene, aber auch auf individueller Ebene wenn die Menschen sich darüber sorgen, wie sie in den vermeintlich produktiven Jahren Geld fürs Alter zurücklegen können.

Den Finanzberatern in Mayfair gab ich an diesem Tag ein paar Ideen dazu, wie sie richtig zuhören: zum Beispiel indem sie darauf achten, was ihren Kunden Lebenssinn gibt und Lebensfreude macht. Oder indem sie auf die Verbindung zu ihrem zukünftigen Selbst achten. Oder indem sie darauf achten, mit wem sie sich vergleichen. Ein Berater erzählte mir: er habe eigentlich nur zwei Arten von Kunden: diejenigen, die — obwohl sie 7-stellige Beträge auf ihrem Konto haben — glauben, sie haben nicht genug Geld. Und solche die glauben, dass sie zu viel Geld haben und sich Sorgen machen, ihre Kinder zu verkorksen. Aus solchen Geschichten kann man lernen und bessere Finanzpläne schmieden. Aber man muss lernen, richtig zuzuhören.

Zurück zur Listening Bar.

Jazz kann man dann genießen, wenn man weiß, wie man zuhören muss: Jazzmusiker verwenden oft komplexe Harmonien und Akkordwechsel, um Spannung und Farbe hinzuzufügen und mit den harmonischen Veränderungen nicht nur die Musik voranzutreiben, sondern auch um Geschichten zu erzählen, indem sie Spannung, Emotionen und Klangfarben erzeugen, die den Zuhörer auf eine musikalische Reise mitnehmen. Die Jazzmusiker experimentieren oft mit verschiedenen Klangfarben und Voicings, um Harmonien interessanter und ausdrucksstärker zu gestalten. Die Verwendung von ungewöhnlichen Akkordvoicings und erweiterten Harmonien kann eine reiche Klanglandschaft erzeugen, die der Musik eine erzählerische Qualität verleiht.

Jazz ist oft auch ein Gespräch zwischen den Musikern. Sie reagieren aufeinander, fordern sich gegenseitig heraus und arbeiten zusammen, wenn sie ihre Musik gestalten. Achten Sie mal darauf wie Drummer, Bassist und Pianist (in einem klassischen Trio) einerseits miteinander, andererseits aber auch gegeneinander arbeiten. Und wie dabei der Swing entsteht. Oder achten Sie darauf in dem an diesem Abend im Brilliant Corners von den DJs aufgelegten Song „People Make The World Go Round“ von Milt Jackson.

Swing ist ein wesentliches Merkmal des Jazz und drückt ein Gefühl von Groove oder rhythmischer Spannung aus. Achten Sie mal auf den Wechsel von stark betonten und weniger betonten Noten und den Einsatz von Synkopen. Das muss gar nicht mit dem Kopf passieren. Wenn Sie anfangen mit dem Finger zu tappen, den Kopf zu nicken oder zu klatschen, dann haben Sie ein bestimmtes Verhältnis von Beat und Offbeat gehört.

Wie war also die Atmosphäre in der Listening Bar? Die meisten Leute haben ehrlich gesagt nicht so zugehört, wie ich mir das gedacht oder erhofft hatte. Die meisten saßen da in Gruppen, hatten eine schöne Zeit, aber unterhielten sich dabei recht laut so dass man, trotz der Musik, noch eine Konversation führen kann. Aber das war in Ordnung: die Kellner waren sehr nett – ich hatte einen Schnack an der Bar von Heuschnupfen bis zu Musiksnobs (bin ich einer?).

Nach einer Weile setzte ich mich an einen Tisch. Und wieder nach einer Weile kamen die DJs kurz dazu. Sie freuten sich über jemanden, der einfach nur kam, um zuzuhören. Mit ihrer Flasche Wein füllten sie mein Glas immer wieder auf, so dass es ein langer Abend wurde. Wir sprachen darüber, was wir so machen (und es gab High-Fives als ich erzählte, dass ich an diesem Tag Finanzberatern erzählte, dass sie ihre Kunden nicht nur reicher, sondern glücklicher machen sollten) und tauschten Nummern aus. Einer der DJs hat witziger Weise eine Modeshow in Schottland sodass wir uns vielleicht wieder treffen.

Die Moral von der Geschichte: Zuhören lohnt sich – nicht nur wegen der kostenlosen Drinks.

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