Fred Hersch, sein Zukünftiges Selbst und die Big-Ass Wish List
Ich höre Jazz. Probiere mich selber manchmal am Klavier. Und ich interessiere mich für die Biografien bekannter Jazz-Musiker. Wenn ich an nur einige Vertreter aus der Hauptstadt des Jazz, New York City, denke – zum Beispiel Fats Waller, Bud Powell, Thelonious Monk, Bill Evans oder Mary Lou Williams – dann fällt auf, dass nur wenige einen hohen Grad an Financial Wellbeing hatten.
Sie waren zwar alle bekannt und ihr Beitrag zur Musikgeschichte ist unumstritten. Aber nicht nur aufgrund von Armut (geringe Einkommen, Schulden, keine Rücklagen) hatten sie geringe finanzielle Stabilität. Sie hatten ebenso keine Tendenz, mit ihrem Geld zu haushalten oder nachhaltig umzugehen. Häufig wurden viele der schlechten Gewohnheiten durch Drogenprobleme nur verschlimmert.
Aber es gibt auch interessante Ausnahmen. Neulich las ich die tolle Biografie von Fred Hersch – einem der lyrischsten und sensibelsten zeitgenössischen Vertreter des Jazz Piano. An Fred Hersch mag ich die klare und präzise Technik sowie seinen ausgeprägten Sinn für Melodie, Harmonie, Ruhe und Rhythmus. Hier ist ein Beispiel seiner wunderbaren Musik – aufgenommen im Lincoln Centre in der Upper West Side von Manhattan.
Die Sensibilität und Emotionalität in seiner Musik muss natürlich nicht im Widerspruch stehen zu der Fähigkeit, ein guter Geschäftsmann zu sein. Aber dennoch überrascht es vielleicht. Man könnte annehmen, dass Menschen, die mit künstlerischen Mitteln komplexe Emotionen ausdrücken können, eher Schwierigkeiten haben, sich auf die Geschäftsseite zu konzentrieren und die notwendigen Fähigkeiten zu entwickeln, um ein erfolgreiches Business aufzubauen und zu betreiben. Sie könnten beispielsweise Schwierigkeiten haben, sich mit den Finanzen, dem Marketing oder der Buchführung auseinanderzusetzen.
Fred Hersch selbst würde vielleicht eine Finanzkompetenz abstreiten. Aber ich sehe ein paar Seiten in seinem Mindset, die ihm zu Financial Wellbeing verholfen haben: Er beschreibt in seiner Biografie unter anderem seine ehrgeizige, selbstbewusste und zukunftsorientierte Einstellung als er als 21-jähriger Jazzpianist 1980 aus Cincinnati nach New York kam, um mit den Besten der Branche zu spielen. Immer wieder bewarb er seine musikalischen Fähigkeiten in den diversen Jazzclubs der Stadt, zum Beispiel dem Bradley’s, in dem er Kassetten abgab und lautstark mitteilte, was er alles kann.
Truth to tell, I was pretty full of myself and probably too pushy. I suppose I was a nuisance at Bradley’s, in everybody’s face a little too much. I could have lain back and taken things more deliberately. If I could go back in time and meet the Fred from those days, I don’t know if I would like him very much. He was awfully arrogant for a guy who hadn’t done that much yet. But I know what he would say to me. He would say, I know what I can do. I have the goods. I want to be playing with the best musicians in the world. Why should I wait? (S. 82)
Im Rückblick auf sein Vergangenes Selbst sieht Fred Hersch sich als ungeduldig, aufdrängerisch und arrogant. Aber ich sehe vor allem die produktive Seite seines Verhaltens: Er war geleitet von einer Vision seines Zukünftigen Selbst. Er war begierig darauf, sich einen Namen zu machen. Er sah sich als einen der Großen. Jemand, der mithalten kann mit den namhaften Vorgängern aus dieser Stadt.
In meiner eigenen Forschung sehe ich, wie sehr eine starke Verbindung zum Zukünftigen Selbst die Handlungen im Hier und Jetzt beeinflusst. Menschen ganz gleich welcher Einkommensstufe aber einer konkreten und bedeutungsvollen Verbindung zu ihrem Zukünftigen Selbst gehen mit Geld ganz anders um, als Menschen in derselben Einkommensstufe und einer nur vagen und abstrakten Verbindung zu ihrem Zukünftigen Selbst: Sie haben weniger Schulden, sie haben höhere Finanzpolster, sie haben die richtigen Versicherungsprodukte und sie betreiben eher private Altersvorsorge. Sie gehen auch eher ins Fitnessstudio, investieren in soziale Netzwerke und betreiben ihren Berufs- und Freizeit-Alltag unter Berücksichtigung dessen, was ihnen Freude und Lebenssinn gibt.
Fred Hersch war geleitet von einer Vision. Da er wusste, was er wollte, hat er viele finanzielle Entscheidungen zugunsten seines Zukünftigen Selbst, nicht seines Gegenwärtigen Selbst getroffen. Zum Beispiel erklärte er sich zu schlecht bezahlten Gigs bereit, wenn diese ein plausibles Sprungbrett hätten sein können; oder er zahlte bekannten und namhaften Musikern viel Geld dafür – so viel, dass er selbst kaum Einnahmen für sich hatte – nur um mit diesen gemeinsam auftreten zu können und zu demonstrieren, in welcher Liga er sich spielen sieht. All diese Entscheidungen halfen ihm damals nicht unbedingt, finanziellen Wohlstand aufzubauen. Er konnte kein luxuriöses Leben leben. Vielmehr lebte er bescheiden, aber mit Blick auf seine Vision, ein erfolgreicher Musiker mit einem eigenen Stil in der Welthauptstadt des Jazz zu sein.
Er behielt diese Perspektive bei. Bis Ende 2001 hat er schon viele Auszeichnungen gewonnen: Schon drei Jahre in Folge wurde er damals „Best Pianist" von der Jazz Journalists Association gewählt (einen Titel, den er von dieser Gruppe 10 Jahre in Folge bis 2007 bekam). Er gewann zwei Grammy-Nominierungen (1993 und 1998) für seine Alben „Evanessence: A Tribute to Bill Evans" und „Let Yourself Go: Live at Jordan Hall". Er hatte ebenso international Erfolg und tourte die einschlägigen Clubs der Metropolen der Welt.
Aber er blieb weiterhin ambitioniert und fokussierte sich auf langfristige Ziele. An anderer Stelle in seiner Biografie beschreibt er, wie zu Beginn jedes Jahres eine BAWL – eine Big-Ass Wish List – aufstellt:
At the beginning of every year, my manager, Robert Rund, and I would make something we called the BAWL, our ´big-ass wish list´. It was a dream litany of career aspirations—venues and cities I wanted to play in, projects I hoped to do. I’d let my imagination run free, not concerning myself with matters of feasibility. (S211)
Was für eine großartige Technik! Einfach mal spinnen: Was würde ich in den nächsten 12 Monaten am liebsten machen – mit wem, wann, wo?
Wie würde Ihre BAWL aussehen? Ihr Traumkatalog? Ohne sich Gedanken über die Machbarkeit der einzelnen Punkte zu machen?
Im Januar 2002, so rekonstruierte es Fred Hersch in seiner Biografie, erzählte er seinem Manager, dass er gerne irgendwann ein großes Werk schreiben würde, das die Poesie des amerikanischen Dichters Walt Whitman verarbeitet. Fred Hersch war fasziniert von der Schönheit von Whitmans Sprache, ihrer musikalischen Qualität und seiner Feier der Verbundenheit zwischen Mensch und Natur. Obwohl er im Januar 2002 noch keine konkrete Vorstellung von der möglichen Form eines Whitman-Projekts hatte, notierte er es auf seiner Big-Ass Wish List. Und einige Monate später erfuhr er von seinem Manager, dass er ihn tatsächlich verpflichten konnte, ein großes Werk zu Whitman, das er dann noch nicht einmal komponiert hatte, im Frühling des folgenden Jahres aufzuführen.
Hieran erkennt man es wieder: Wir brauchen Klarheit über die Dinge, die wir wollen. Es kann noch so absurd, abwegig und unmöglich klingen – und vielleicht (höchstwahrscheinlich sogar) kommt es auch nie genauso zustande, wie wir es uns wünschen. Aber mit einer Vorstellung davon, was wir erreichen und erleben wollen, werden wir anders geleitet und leiten wir uns selbst auf ganz andere Art und Weise.
Im Fall von Fred Hersch hat der unbedingte Wille, ein musikalisches Erbe zu entwickeln, auch dazu beigetragen, dass er gesundheitlich schwierige Herausforderungen überstehen konnte. 2008 fiel er aufgrund von HIV-Komplikationen ins Koma und erlitt dabei schwere Hirnschäden. Er musste motorische Fähigkeiten neu erlernen, da die Hirnschäden seine Feinmotorik beeinträchtigt hatten. Und mithilfe von Willenskraft und Vision, schaffte er es schon bald darauf, als erster Solo-Pianist im Village Vanguard – dem legendären Jazz Club in Greenwich Village – aufzutreten.
Heute gilt er tatsächlich als einer der führenden Jazz-Pianisten und Komponisten der Gegenwart und ein sehr erfolgreiches und einflussreiches Mitglied der Jazz-Gemeinschaft. Seine Biografie zeigt, dass man durch eine ehrgeizige, selbstbewusste und zukunftsorientierte Einstellung, verbunden mit einer Vision seines zukünftigen Selbst, zu einem Financial Wellbeing gelangen kann. Denn Menschen mit einer konkreten und bedeutungsvollen Verbindung zu ihrem zukünftigen Selbst gehen mit Geld anders um und treffen finanzielle Entscheidungen zugunsten ihres zukünftigen Selbst.
Im Clip unten stellt er sich dem Deutschen Publikum bei einem Auftritt in Hamburgs Elbphilharmonie vor. Viel Spaß!