Die Literatur von Bernhard Schlink
Nennen Sie mich einen Kulturbanausen, aber ich habe erst Anfang 2024 die Literatur von Bernhard Schlink kennengelernt. Und seitdem lese ich ein Buch nach dem anderen. „Der Vorleser“ – das Buch, mit dem er international erfolgreich wurde und das Buch, das auch verfilmt wurde – steht etwas weiter unten auf der Liste.
Ich weiß: Schlink beschäftigt sich gerne mit der deutschen Geschichte, insbesondere mit den Nachwirkungen des Nationalsozialismus und dem Umgang der Nachkriegsgeneration mit den Taten ihrer Eltern. Es ist eines seiner Hauptanliegen. Aber ehrlich gesagt interessiert mich persönlich dieser Blickwinkel nicht so sehr.
Ich mag eher die häufig komplexen oder absurden Lebensentscheidungen, die die Hauptprotagonisten treffen müssen. „Die Frau auf der Treppe“ zum Beispiel. So heißt sein Roman aus dem Jahr 2014. Die Frau auf der Treppe heißt Irene und sie ist ebenjene Frau auf der Treppe, weil sie von einem jungen, aber schon erfolgreichen Maler gemalt wird, wie sie nackt die Treppe herunterläuft. (Schlink selber spricht die Ähnlichkeit zu Gernhardt Richters „Ema, Akt auf einer Treppe“ – die Geschichte ist allerdings erfunden.)
Der Plot – in aller Kürze – ist, dass ein Anwalt einen Rechtsstreit zwischen dem Maler und dem Käufer des Bildes lösen soll. Der Käufer hat das Problem, dass seine Frau (Irene, die vom Maler gemalt wurde) sich in den Maler verknallt hat und mit ihm durchgebrannt ist. Der Käufer wird allerdings vom Maler angeklagt, weil dieser am Bild immer wieder kleinere Schäden anrichtet (es scheint, als sei mal mit dem Messer ins Knie gestochen worden und mit dem Feuerzeug an der Schulter gekokelt worden, etc.). Es geht hin und her, bis Irene selbst die Schnauze voll hat und mit beiden nichts mehr zu tun haben will. Sie will abhauen – mit der Hilfe vom Anwalt. Dieser hat sich inzwischen selbst zu allem Überfluss in Irene verknallt (nun, er hat sich wirklich verliebt) und glaubt, dass Irene mit ihm ein neues Leben anfangen will. Er hilft ihr, sich sowohl vom Maler als auch vom Käufer des Bildes zu befreien. Allerdings haut Irene dann auch schnell von ihm ab.
All das passierte in den frühen 90ern.
Jahrzehnte später…
Und hier wird es so faszinierend, finde ich.
Irene ist nach Australien ausgewandert und lebt illegal auf einer Halbinsel nahe Sydney. Sie ist alt und hat Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Sie ist am Lebensende.
Der Anwalt hat sie in jahrelanger Detektivarbeit aufgesucht – sie ist ihm nicht aus dem Kopf gegangen. Jetzt findet er sie. Sie erinnert sich sofort an ihn. Sie tauschen sich aus. Sie reflektieren, was damals passiert ist. Sie erklärt, wie ihr überwiegendes Bedürfnis damals war, sowohl vor ihrem kontrollierenden Ehemann als auch vor dem besitzergreifenden Künstler zu fliehen. Ihre Entscheidung symbolisierte den Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung. Ein neues Leben mit Hochzeit und so weiter mit dem Anwalt… Das passte damals nicht. Es passte nicht zu Irenes Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Freiheit.
Ein paar Tage später kommen der Maler und Irenes Ex-Mann dazu. Sie hat ihnen eine Falle gestellt: Sie stellte ihnen in Aussicht, dass sie das inzwischen verloren gegangene Bild wiederbekommen. Aber eigentlich wollte sie sich nur nochmal mit ihnen austauschen und sie sehen.
Diese Tage auf der Halbinsel in Australien sind eine Phase der Reflexion: Sie schauen zurück auf die Vergangenheit, die Entscheidungen, die sie getroffen haben, die Motive dahinter und inwiefern sie richtig oder falsch waren… Der Maler und der Käufer müssen sich ihren früheren Handlungen und den Auswirkungen ihrer Besessenheit von Irene und dem Gemälde stellen. Ihre Entscheidungen spiegeln Themen von Besitz, Kontrolle und Verlust wider.
Und hierin liegt genau das, was mich so anspricht: die Reflexion über Lebensentscheidungen und die Motive dahinter. Es handelt sich hier um genau das, was wir natürlich nie so häufig und tiefgründig machen, wie wir es eigentlich machen sollten.
Eine Kernthese der Verhaltenswissenschaften ist, dass wir im Allgemeinen nicht auf unser Wohlergehen achten, sondern unsere Situation immer mit irgendwelchen Referenzpunkten vergleichen, die vielleicht eigentlich irrelevant sind. Wir kaufen zum Beispiel bestimmte Produkte, weil…
…sie früher mal teurer waren,
…wir lernen, dass andere es auch gekauft haben,
…es präsentiert wird als eine Möglichkeit, Status / Familiensinn / Liebe / X, Y, Z auszudrücken,
…wir sie in der Werbung von X präsentiert werden,
…es eine Nullprozentfinanzierung gibt.
Wir fragen selten: Wofür brauchen wir das eigentlich wirklich? Um was zu erreichen? Und ist uns dieses oder jenes eigentlich wirklich so wichtig? Oder geht es nicht um etwas anderes? Wenn es um etwas anderes ginge, könnte man es dann nicht anders erreichen, und so weiter.
In meinem im Oktober erscheinenden Buch „Der Weg zu Glück und Wohlstand im 100-Jahre Leben“ diskutiere ich, dass dies extrem wichtige Fragen sind. Und wenn wir uns solche Fragen stellen, dann bauen wir einen Vermögenswert auf, der in den längeren, gesünderen Leben, die wir leben, immer wichtiger wird: Selbstwissen. Ja genau, es klingt vielleicht esoterisch. Aber Selbstwissen – unter anderem über die Dinge, die wir wirklich wollen – ist eine Art von Vermögenswert.
Ich würde mir wünschen, dass auch mehr Finanzberater dies verstehen und entsprechend nicht nur an Finanzplänen, sondern auch Lebensplänen arbeiten. Oder anders: dass sie sich stärker damit auseinandersetzen, wie die finanzielle Situation ihrer Kunden es ihnen erlaubt, das Leben zu leben, das sie führen wollen. Auf meiner Website stelle ich ein Ebook zur Verfügung in dem ich argumentiere, dass die Finanzberater der Zukunft Wellbeing-Maximierer sind. Nicht Wohlstandsmaximierer.
Zurück zur Frau auf der Treppe.
Als Maler und Ex-Mann die Halbinsel wieder verlassen und Irene mit dem Anwalt zurückbleibt, entwickelt sich eine Art Liebesgeschichte. Irenes Krebs wird immer schlimmer. Er pflegt sie. Er macht das Bett, wäscht sie, bereitet ihr das Essen zu… Und sie sitzen nebeneinander und sie fragt ihn, wie das Leben gelaufen wäre, wenn sie damals mit ihm abgehauen wäre. Er erzählt, wie sie gemeinsam nach Amerika ausgewandert wären. Wie er zuerst bei McDonald’s in New York gearbeitet hätte, sich dann aber hocharbeitet hätte und sie Trips hätten machen können. Ein Trip wäre bis zur Westküste gegangen. Sie hätten die Golden Gate Bridge in San Francisco gesehen. „Und wenn wir uns schon in der Uni kennengelernt hätten“, fragt Irene. Und so erzählt er, wie das Leben geworden wäre, wenn sie sich schon dort kennengelernt hätten.
Man sieht dann, wie die Vergangenheit die Gegenwart beeinflusst und wie unaufgelöste Konflikte und Gefühle über Jahrzehnte hinweg nachwirken können. Und wie man von der Gegenwart anders auf die Vergangenheit blickt. Und wie man sich vielleicht wünscht, die einst vor einem stehende Zukunft noch einmal erleben zu dürfen. Sie merken, wie sie immer schon schwierige Entscheidungen treffen mussten. Entscheidungen, die ihre moralischen Überzeugungen und persönlichen Beziehungen auf die Probe stellen. Entscheidungen, die sie nie realisiert haben, auf die sie nie angesprochen wurden und die sie nie diskutiert haben.
Schade. Für Irene ist es zu spät.
Der Anwalt selbst überlebt sie. Will er auf dem Heimweg nach Deutschland nochmal das Bild von der jungen Irene sehen? Angeblich wird es in einem Museum in Sydney ausgestellt? Was würde Vergänglichkeit besser zum Ausdruck bringen als dieses Bild von der jungen, gerade an Krebs verstorbenen Irene?
Das 100-Jahre Leben – ein Ausdruck von Lynda Gratton und Andrew Scott – ist eine tolle Sache. Nie zuvor sind wir als Gruppe so alt geworden wie heute. Wir können uns darüber freuen, so viel Zeit zu haben. Tun wir das? Häufig sehen wir die damit verbundenen Herausforderungen. Vor allem ökonomischer oder finanzieller Art. Wir sehen, dass es teuer ist, ein 100-Jahre Leben zu finanzieren. Aber nicht zuletzt deshalb – aufgrund der finanziellen Herausforderungen – fällt es uns so schwer, das 100-Jahre Leben maximal zu genießen. Wir brauchen finanzielle Sicherheit heute und morgen. Wir wollen aber auch Lebensqualität heute und morgen. Das ist eine Zerreißprobe. Sie wird häufig zu einer Falle. Eine Falle aufgrund von Entscheidungen, die wir langfristig bereuen könnten oder die nicht berücksichtigt haben, was wir eigentlich wollen.
Die Literatur von Bernhard Schlink zeigt uns dies auf imposante, feinfühlige und nachdenkliche Weise.