Über Zeit und Alter(n)
In meinem Buch schreibe ich davon, dass als die gesetzliche Rentenversicherung eingeführt wurde, die durchschnittliche Lebenserwartung der Deutschen bei knapp unter 40 Jahren lag. Nur wenige Menschen qualifizierten sich damals für diese Sozialleistung – knapp unter 150.000. Heute sind es 26 Millionen.
Die staatliche Rentenversicherung ist entsprechend unter Stress. Und eine Lösung lautet, den Renteneintritt hinauszuzögern. Rente ab 67. Vielleicht schon bald erst ab 69.
Vielleicht ist ein Grund, warum uns länger arbeiten müssen als pervers erscheint, dass wir mit der Einführung der staatlichen Rentenversicherung eine neue Vorstellung von Zeit, Älterwerden und Alter internalisiert haben. Zeit verstehen wir seitdem zunehmend als etwas Chronologisches. Alter verstehen wir zunehmend als ein Verhältnis zur Leistungs-, Produktions- und Berufsfähigkeit. Das war nicht immer so – wie Ausflüge in die Literatur belegen.
Hans Castorp, der Hauptcharakter aus Thomas Manns Zauberberg, plante ursprünglich, ein Sanatorium nahe Davos nur für drei Wochen zu besuchen, um seine vermeintliche Lungenkrankheit zu behandeln. Der Bildungsroman handelt unter anderem davon, wie der angehende Ingenieur nicht merkte, dass aus den ursprünglich geplanten drei Wochen, sieben Jahre wurden. Aus der Monotonie der immer gleichen Abläufe und Routinen und den immerzu ewigen Gesprächen mit anderen Bewohnern der Einrichtung wird Zeit zu etwas Zyklischem. Erst der plötzliche Ausbruch des ersten Weltkrieges setzt dem Zyklus in der Geschichte ein Ende und Zeit wird wieder linear und chronologisch.
Wenn wir heute über unsere Lebenswege nachdenken, unsere Karrieren oder unsere Zukunftsvorstellungen, dann denken wir auch in der Regel an die Fortschritte und Veränderungen, die wir in diesen Zeiten durchlebt haben. Wir denken weniger an die Dinge, die alle Tage, alle Jahreszeiten oder alle Jahre immer wieder passieren und die währenddessen konstant geblieben sind – zum Beispiel unsere Rituale, Wertvorstellungen, Ideale, Instinkte und Emotionen zu bestimmten Themen. Nicht alles hat sich verändert – und sich dieser Konstanten bewusst zu sein, kann hilfreich sein – zum Beispiel wenn wir darüber nachdenken, was uns Freude und Lebenszweck gibt.
In seinen Maximen und Reflektionen, und 80 Jahre vor der Einführung der Rentenversicherung, schreibt Johann Wolfgang von Goethe über das Älterwerden Folgendes: "Älter werden heißt selbst ein neues Geschäft antreten; alle Verhältnisse verändern sich, und man muß entweder zu handeln ganz aufhören oder mit Willen und Bewußtsein das neue Rollenfach übernehmen."
Älterwerden, mit anderen Worten, heißt nicht Resignation oder Ruhestand. Es heißt, eine andere neue Aufgabe zu finden und dabei auch eine Lebensphilosophie anzutreten, in der neue Lebensfreuden entdeckt werden müssen. Generell beschreibt Goethe, so fasst es der Literaturwissenschaftler Helmut Bachmaier zusammen, alle Altersstufen als bestimmte Lebensphilosophien. Während Kinder Realisten sind (alles scheint so zu sein, wie man es sieht), werden Jugendliche zu Idealisten (die die Welt verändern wollen). Erwachsene werden dann aufgrund diverser Enttäuschungen im Leben zu Skeptikern. Und Alte entweder zu Fatalisten oder Mystikern.
Goethes Perspektive über Alter und Thomas Manns Perspektive über Zeit unterscheidet sich stark von den Vorstellungen derselben in modernen industriellen Gesellschaften. Seit der Existenz von Sozialstaaten – insbesondere jedoch in der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg – internalisierten wir ein Drei-Stufen-Leben indem eine Stufe auf der anderen chronologisch aufbaut und wir ein klares Verhältnis zur Berufsfähigkeit haben:
In den ersten Jahren unseres Lebens befinden wir uns Vollzeit in Ausbildung. Bis zum ungefähr 20. Lebensjahr lernen wir all die Dinge, die uns ideal auf das Berufsleben vorbereiten. “Deutschland investiert in gute Bildung”, heißt es auf den Seiten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Und weiter: “Das zahlt sich aus: Die Wirtschaft floriert und die Arbeitslosigkeit – insbesondere unter Jugendlichen – ist so niedrig wie seit vielen Jahren nicht mehr.”
In der zweiten Phase unseres Lebens befinden wir uns im Berufsleben. Für ungefähr 45 Jahre (so legt es der Gesetzgeber mit der Versicherungszeit von 45 Beitragsjahren, die für abschlagsfreie Rente notwendig sind, fest) sollen wir produktiv sein. Sollte man in dieser Zeit arbeitslos werden, gibt staatliche Anreize, schnell wieder ins Berufsleben zurückzukehren. Zum Beispiel fordert die Bundesagentur für Arbeit, dass “[w]enn Sie arbeitsuchend bzw. arbeitslos gemeldet sind und unser Dienstleistungsangebot in Anspruch nehmen möchten”, dann müssen Sie “eine aktive Stellensuche über das Internet, in Zeitungen etc.” betreiben.
In der letzten Stufe unseres Lebens befinden wir uns endlich im Ruhestand. Hier leben wir von unseren privaten oder in Umlagesystemen gesammelten Ersparnissen und sind idealerweise frei von einigen Zwängen des Erwerbslebens.
Ich möchte die Einrichtungen der Bundesregierung mit den oben zitierten Stellen gar nicht kritisieren. Natürlich halte auch ich Bildung für notwendig und unterstützenswert. Ebenso halte ich es für angebracht, staatliche Leistungen an Bedingungen zu knüpfen. Ich möchte lediglich darauf hinweisen, wie der Sozialstaat ein bestimmtes Lebensmodell institutionalisiert hat. Und wie wir die Normalität dieses Modells selbst internalisiert haben.
In diesem Modell ist das Leben wie eine Leiter: Es geht immer linear aufwärts – Schritt für Schritt oder Sprosse für Sprosse bewegen wir uns auf die nächste Stufe. Und häufig können wir die Schritte mit bestimmten Lebensaltern assoziieren: Die Schule beginnen wir in der Regel im Alter von 6 Jahren; die Ausbildung beginnt man nach der Realschule; die Universität besucht man nach dem Abitur; den ersten Job landet man nach der Ausbildung. Und so geht es weiter bis hin zur Regelaltersgrenze, die man mit 67 erreicht.
In ihrem Buch “Morgen werden wir 100. Wie unser langes Leben gelingt” von Lynda Gratton und Andrew Scott plädieren die Autoren dafür, Zeit nicht nur chronologisch, sondern vielmehr in Phasen und Übergängen zu verstehen. Sie argumentieren, dass unsere herkömmlichen Vorstellungen von Bildung, Arbeit und Ruhestand nicht mehr angemessen sind, angesichts der steigenden Lebenserwartung und des technologischen Wandels.
Anstatt das Leben in drei Hauptphasen zu unterteilen – Bildung, Arbeit und Ruhestand – schlagen die Autoren vor, ein flexibleres und anpassungsfähigeres Modell zu nutzen. Dies könnte bedeuten, dass man im Laufe des Lebens verschiedene Phasen von Lernen, Arbeiten und Erholung durchläuft, und zwar in einer Weise, die den individuellen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Umständen entspricht.
Das bedeutet, dass Menschen während ihres Lebens mehrere Karrieren haben könnten, zwischendurch Pausen einlegen oder ihre Arbeitszeit anpassen, um sich weiterzubilden oder sich um ihre Familie zu kümmern. Durch diese alternative Sichtweise auf Zeit soll das Potenzial des längeren Lebens besser genutzt werden, um ein erfüllteres und bedeutungsvolleres Leben zu ermöglichen.
Langlebigkeit wird häufig als Problem dargestellt, weil wir häufig einseitig über die ökonomischen Probleme von Langlebigkeit nachdenken. Aber Langlebigkeit ist eigentlich doch ein großartiges Geschenk. Mit einem anderen Verständnis von Zeit, Alter und Älterwerden können wir dieses Geschenk vielleicht endlich wertschätzen. In meinem Buch beschreibe ich, wie konkret wir das tun können.