Menschenzentrierte Finanzdienstleistungen. Wishful thinking?
Wenn wir physische Gegenstände herstellen – Rasierer, Telefone, Stühle, Autos – dann berücksichtigen wir ganz selbstverständlich die Beschaffenheit des menschlichen Körpers. Beispielsweise wird beim Design des Griffs eines Rasierers die natürliche Krümmung der Hand, ihre durchschnittliche Breite und die Position des Daumens berücksichtigt. Hochwertige Produkte verfügen über schwenkbare Köpfe, die sich den Kurven und Konturen anpassen, und Klingen, die so gestaltet sind, dass sie keine Reizungen oder Verletzungen auf der Haut verursachen.
Bei der Gestaltung von Finanzprodukten und -dienstleistungen hingegen fällt es uns oft schwer, die natürlichen Eigenschaften des Menschen zu berücksichtigen. In der Finanzwelt neigen wir dazu, von einem Homo Oeconomicus auszugehen – einer Person, die stets rational, informiert und auf ihren eigenen Nutzen bedacht handelt. Doch im wahren Leben sind wir emotional, sozial und weit entfernt von dieser berechnenden Perfektion.
Dieses Bild vom Homo Oeconomicus zeigt sich zum Beispiel in folgenden Finanzprodukten:
Banken bieten Girokonten mit unterschiedlichen Funktionen und Konditionen an, weil sie davon ausgehen, dass Kunden rational handeln und das für sie vorteilhafteste Konto wählen.
Bei Anlageportfolios wird oft angenommen, dass Anleger diverse Optionen aus einer Vielzahl von Angeboten auswählen möchten, um das bestmögliche Risiko-Rendite-Verhältnis zu erzielen.
Versicherungsgesellschaften bieten Rentenversicherungen mit verschiedenen Optionen und Leistungen an, in der Erwartung, dass Kunden diejenige wählen, die ihren Bedürfnissen am besten entspricht und die optimale Balance zwischen Rendite, Sicherheit und Flexibilität bietet.
In Wirklichkeit sind Menschen jedoch viel komplexer. Wie bei der Optimierung von Griff und Klinge eines Rasierers sollten wir auch bei Finanzprodukten auf die menschlichen Bedürfnisse – psychologischer und emotionaler Art – eingehen.
Es geht nicht nur um benutzerfreundliche Oberflächen: Hier werden gute Fortschritte gemacht. UX und UI sind akzeptierte Abteilungen in Finanzfirmen.
Es geht auch um mehr als Nudges (oder Stupser) wie zum Beispiel die Aufrundungsfunktion, die zum Beispiel von Banken wie N26 oder der Deutschen Bank angeboten werden. Das ist schon recht gut: Die Aufrundungsfunktion in Banking-Apps ermöglicht es, bei jeder Transaktion den Betrag auf den nächsthöheren Eurobetrag aufzurunden und die Differenz in ein Sparkonto zu überweisen, basierend auf verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnissen, die das regelmäßige Sparen fördern und zu positiven Verhaltensänderungen beitragen.
Es geht um Folgendes:
Banken, Finanzberater und Anlageplattformen könnten sich mehr darauf konzentrieren, wie finanzielle Entscheidungen das gesamte Wohlbefinden der Kunden beeinflussen, einschließlich Faktoren wie Glück, Lebenszufriedenheit und soziale Beziehungen. Die Klassifizierung von Ausgaben in objektive Kategorien wie Miete, Lebensmittel und Transport ist mittlerweile einfach. Aber was ist mit persönlichen, subjektiven Kategorien wie Spaß, Abenteuer, Zugehörigkeit und Ruhe? Warum gibt es keine Technik, die uns dazu ermutigt, Ausgaben im Hinblick auf ihren tieferen Sinn für uns zu überprüfen?
Finanzdienstleister könnten weniger über finanzielle Ziele und Renditen sprechen und stattdessen Kunden dabei unterstützen, ihre persönlichen Stärken und Talente zu erkennen und diese bei der Entwicklung einer finanziellen Strategie zu berücksichtigen. Finanzielle Bildung bedeutet nicht nur, technische Fähigkeiten zu erwerben. Tools und Ressourcen zur Selbstreflexion, Zielfindung und Persönlichkeitsentwicklung können ebenso einen wichtigen Beitrag zum besseren kurz- und langfristigen Umgang mit Geld leisten.
Banken und andere Finanzdienstleister könnten die Selbstwirksamkeit ihrer Kunden fördern und Vertrauen in ihre Fähigkeit aufbauen, finanzielle Entscheidungen zu treffen und ihre finanziellen Ziele zu erreichen. Dies könnte durch praktische Übungen, Erfolgsgeschichten und kontinuierliche Unterstützung erreicht werden. Einige dieser Übungen sind in meinem Buch zu finden.
Finanzdienstleister könnten Kunden dabei helfen, Resilienz aufzubauen und mit Rückschlägen umzugehen, indem sie Strategien zur Bewältigung von Stress und negativen Emotionen vermitteln, die mit finanziellen Herausforderungen verbunden sind. Es gibt viele Newsletter, Push-Benachrichtigungen, Broschüren und Web-Artikel zu verschiedenen Themen, aber in der Regel sind sie nicht darauf ausgerichtet, den Kunden in diesen emotionalen Aspekten zu unterstützen.
In den letzten Jahren haben Finanzinstitute viel darüber nachgedacht, wie sie kundenzentrierter werden können, nachdem sie jahrzehntelang produktzentriert waren. Kundenzentriertheit ist gut und erstrebenswert, geht aber nicht weit genug. Finanzinstitute und -dienstleistungen müssen menschenzentriert werden. Das bedeutet nicht nur, die utilitaristischen Bedürfnisse und Wünsche der Kunden in den Mittelpunkt zu stellen, sondern auch ihre emotionalen, sozialen und psychologischen Bedürfnisse zu berücksichtigen.
Indem wir den Fokus von rein rationalen Annahmen auf die menschliche Natur und ihre Bedürfnisse verlagern, können wir einen Finanzsektor schaffen, der besser auf die Realität unserer Lebenserfahrungen abgestimmt ist und uns dabei unterstützt, ein erfüllteres und zufriedeneres Leben zu führen.
Wishful thinking?
Warum eigentlich?
Es ist erstaunlich, dass wir revolutionäre Technologien wie Blockchain und Kryptowährungen entwickelt haben, die Finanztransaktionen sicherer, transparenter und dezentralisierter gestalten. Dies sind beeindruckende Fortschritte die man vor wenigen Jahren nicht vorhergesagt hätte.
Warum soll es nicht möglich sein Finanzdienstleistungen so zu gestalten, dass sie menschliche Emotionen, Instinkte und Fähigkeiten angemessen berücksichtigen? Während wir technische Meisterwerke schaffen, die den Austausch von Geld und Informationen effizienter machen, scheinen wir die grundlegenden Bedürfnisse und Schwächen der Menschen, die diese Systeme nutzen, zu übersehen.