Finanzielle Unabhängigkeit ist heute ein veraltetes Ziel
Über 800 Bücher listet Amazon zum Thema Finanzielle Unabhängigkeit oder Finanzielle Freiheit. Wahrscheinlich heißt „Finanzielle Unabhängigkeit“ oder „Finanzielle Freiheit“ nicht immer das selbe. Es ist kein klar definierter (oder klar definierbarer) Begriff.
Im Kern jedoch heißt Finanzielle Unabhängigkeit nicht mehr arbeiten zu müssen weil man genug Geld hat. Es ist verständlich, dass Finanzielle Unabhängigkeit ein Traum für viele ist. Nicht mehr arbeiten zu müssen (und genug Geld zu haben), so denkt man, heißt man hat mehr Zeit für Hobbies, Familie und Freunde und so weiter. Man muss sich nicht für Geld entfremden. Man kann sein, wer man wirklich ist. Und so weiter.
Das Ziel finanzielle Unabhängigkeit ist jedoch naiv: aus mehreren Gründen.
Erstens, wenn wir älter werden, dann brauchen wir mehr Geld. Es ist eine ganz einfache Rechnung. Selbst wenn man bescheiden leben kann, sagen wir man kommt mit mickrigen 15.000€ in Jahr aus, dann heißt 10 Jahre länger lebt, dass man 150.000 € mehr braucht. Wo soll das Geld herkommen? Vom Staat? Vom Arbeitgeber? Aus einer Erbschaft? Aus eigenen Ersparnissen?
Es gibt viele Ratgeber die finanzielle Unabhängigkeit versprechen. Mieteinnahmen, Optionshandel, Bitcoin... Diverse Dinge werden vorgestellt als die einfache Möglichkeit, finanziell unabhängig zu werden. In einem Bestseller heißt es dreist, die Millionen hat man schon bald auf dem Bankkonto wenn man nur das Mindest ändert. Die einzigen die sich mit solchen Behauptungen ein schönes Zubrot verdienen sind die Autoren dieser Behauptungen. Wenn es wirklich so einfach wäre finanziell unabhängig zu sein, dann wären es viel mehr. Wir sind nicht alle so dumm, dass wir alle einen einfachen Trick übersehen.
Darüber hinaus jedoch ist auch die Annahme naiv, dass wenn wir erstmal so viel Geld haben dass wir als finanziell unabhängig gelten könnten -- ab welchem Punkt auch immer das ist -- wir mehr Zeit für Hobbies, Familie und Freunde haben. Diverse Superreiche machen es uns vor -- am Lustigsten vielleicht Larry David in Curb Your Enthusiasm: nur weil wir finanziell unabhängig sind, hören unsere Probleme nicht von einem Tag auf den anderen auf. Was häufig eher eintritt: neue Probleme entstehen.
Aus all dem resultiert, das Finanzielle Unabhängkeit -- vor allem in den längeren gesunden Leben, die wir führen -- das falsche Ziel ist. Und dass Financial Wellbeing das bessere Ziel ist. Financial Wellbeing, das ist die finanzielle und mentale Fähigkeit Geld so zu verdienen, auszugeben und verwalten, dass man heute, morgen und übermorgen ein Leben lebt dass einem Lebensfreude und Lebenssinn gibt.
Ich schreibe es nochmal -- ich habe lange an dem Satz gearbeitet.
Financial Wellbeing, das ist die finanzielle und mentale Fähigkeit Geld so zu verdienen, auszugeben und verwalten, dass man heute, morgen und übermorgen ein Leben lebt dass einem Lebensfreude und Lebenssinn gibt.
Lassen Sie mich ein paar Dinge daraus betonen:
Erstens erkennt Financial Wellbeing an, dass zum finanziellen Erfolg eine mentale und eine finanzielle Seite gehört. Es ist nicht nur Mindset. Es ist nicht nur das Geld, das man braucht. Es ist beides. Allerdings würde ich behaupten: langfristige Geldplanung ist in erster Linie ein mentales Problem. Erst in zweiter Hinsicht ein finanzielles.
Zweitens erkennt dieses Konzept an, dass es darum geht wie wir Geld ausgeben und verdienen. Dies sind natürlich zwei Seiten derselben Medaille. Geld brauchen wir nicht nur zum Ausgeben. Geld müssen wir auch verdienen. Die große Frage ist, wie wir es verdienen. Mit einer Arbeit, zu der wir uns quälen (nicht gut!). Oder mit einer Arbeit, die uns erfüllt (Herzlichen Glückwunsch). Oder vielleicht etwas dazwischen (realistisch). Vielleicht kommt das Geld aus zuvor zur Seite gelegten Ersparnissen – in dem Fall müssen wir heute nicht mehr dafür arbeiten. Aber vorher haben wir dafür gearbeitet. Für Ökonomen gibt es nicht so etwas wie „Sparen“. Es gibt nur aufgeschobenes Ausgeben. Diese Sicht betont, dass das Geld auch erstmal verdient werden musste. Und dass es eventuell unter hohen emotionalen, familiären oder sonstigen nicht-monetären Kosten verdient wurde.
Drittens erkennt es an, dass es in erster Linie um Lebensfreude und Lebenssinn geht. Was soll all das Geld, wenn wir es nicht verdienen auf eine Art, die uns glücklich macht. Und was soll es, wenn wir es nicht ausgeben auf eine Art und Weise, die uns glücklich macht. Viele denken, mit finanzieller Unabhängigkeit kommt Glück von allein. Das ist nicht so. Überhaupt nicht.
Viertens erkennt Financial Wellbeing an, dass es nicht nur um die Gegenwart geht, sondern auch die Zukunft. Oder umgekehrt: es geht nicht nur um die Zukunft, sondern auch um die Gegenwart. Im Streben nach finanzieller Unabhängigkeit wird Letzteres häufig vergessen. Viele Sparen wie verrückt auf eine ferne Zukunft – damit sie irgendwann einmal finanziell frei sind. Sie vergessen dabei, dass sie auch heute leben.
Das Paradebeispiel dafür, dass Finanzielle Unabhängigkeit oder Finanzielle Freiheit das falsche Ziel ist sind die Lübecker Buddenbrooks. Diese fiktive Kaufmannsfamilie aus Thomas Manns Roman von vor 130 Jahren war materiell abgesichert. Aber sie alle verkorksten sich das Leben: Senator Buddenbrook weil er Status und Erfolg im Geschäft lange als das einzige Ziel hatte; Christian, weil er eigentlich fürs Theater und die Kunst schwärmte, das aber nie zugeben konnte; Toni, weil sie die großen finanziellen Entscheidungen den Männern in der Familie überließ; Hanno, weil seine Zukunft an ein Unternehmen gebunden war, an dem er kein Interesse hatte. Am Ende resultierte der einseitige Fokus auf Wohlstand und Reichtum im persönlichen Scheitern von allen.
Das zeigt uns: Finanzielle Unabhängkeit ist ein falsches Ziel. Die damit assoziierten Hoffnungen und Annahmen sind sowohl ökonomisch naiv. Sie berücksichtigen darüber hinaus nicht, wie Menschen wirklich ticken. Sie verstehen ebenso nicht, dass unsere langen, gesunden Leben komplexer sind. Wir haben nicht mehr zuerst eine Ausbildung, dann eine Arbeitsphase und dann – Boom – geht’s in den Ruhestand mit 67. Wir leben in einem Multi-Stufen-Leben. Am Anfang steht immer noch die Ausbildung. Am Ende immer noch der Ruhestand. Dazwischen gibt es produktive Phasen mit verschiedenen Karrieren und verschiedenen Übergangsphasen (Arbeitslosigkeit, Kindererziehung, Pflege eines Angehörigen, Sabbaticals).
Die Hoffnung auf finanzielle Unabhängkeit ist verhaftet im Drei-Stufen Modell. Aber dieses Modell entspricht nicht mehr unserer heutigen Realität. Die Idee der finanziellen Unabhängigkeit als Endziel, in der man sich vollständig aus dem Arbeitsleben zurückzieht, ignoriert die dynamischen und vielfältigen Lebensphasen, die wir heute erleben. Das Multi-Stufen-Leben hingegen erkennt an, dass wir in verschiedenen Lebensphasen unterschiedliche Bedürfnisse und Ziele haben.
Financial Wellbeing bietet einen ganzheitlicheren Ansatz. Es geht darum, das Leben in all seinen Phasen zu genießen und finanziell wie mental darauf vorbereitet zu sein. Es ist die Kunst, ein Gleichgewicht zwischen dem Erreichen finanzieller Sicherheit und dem Erleben von Lebensqualität zu finden. Dies bedeutet, dass man nicht nur für die Zukunft spart, sondern auch das Hier und Jetzt genießt. Financial Wellbeing betont auch, dass man statt wie verrückt zu sparen, man sich vielleicht einen neuen Job suchen sollte, wenn man so unbedingt frei sein möchte von Arbeit.