Die Stärken und Grenzen der Verhaltensökonomie
„Die Gegenwart kommt immer zu ihrem Recht”, schrieb 1884 schon der Wiener Ökonom Eugen von Böhm-Bawerk in seinem gründlichen Buch über „Kapital und Kapitalzins”. Und weiter: “Denn sie drängt sich durch die Sinne ein, die wir alle haben. Nach Nahrung zu schreien, wenn ihn schon hungert, das trifft auch der Säugling. Die Zukunft aber müssen wir uns erst vorstellen.”
Viele Ökonomen der folgenden Generationen haben nicht mehr derart viel Empathie für die Irrtümer, Denkweisen oder Psychologie im Allgemeinen gehabt. Zu Beginn der neoklassischen Revolution nach 1870 setzten sich andere Konzepte durch. Den Begriff des homo oeconomicus zum Beispiel benutzte wohl zum ersten Mal der italienische Ökonom Vilfredo Pareto im Jahre 1906. Dieser homo oeconomicus stellt in allen Lebensbereichen den Nützlichkeitswert voran. Dieser Nutzenmaximierer kann genau abwägen, welche Kaufentscheidung die beste ist, wenn man Kosten und Nutzen abwägt.
In den 1940er Jahren wurde die Volkswirtschaftslehre endgültig immer mehr als wissenschaftliche Disziplin anerkannt. Unter anderem auch Dank der Arbeiten von Ökonomen wie Paul Samuelson, der mathematische und statistische Methoden normalisierte. Als er 1970 als erster Amerikaner den Preis für Wirtschaftswissenschaften der Schwedischen Reichsbank erhielt, hieß es in der Begründung zur Verleihung des Preises unter anderem: „Samuelsons Beitrag besteht darin, dass er, mehr als jeder andere gegenwärtige Wirtschaftswissenschaftler, das allgemeine analytische und methodologische Niveau der Wirtschaftswissenschaften weiterentwickelt hat.“
Samuelson untersuchte zum Beispiel die Frage, warum Menschen Zinsen haben wollen, wenn sie Geld in Sparpläne legen. Er hielt fest, dass der Grund darin liegt, dass Menschen den Nutzwert von 100 Dollar in der Zukunft (zum Beispiel in einem Jahr) als weniger wertvoll erachten als den Nutzwert von 100 Dollar in der Gegenwart. Mit anderen Worten, weil sie den Nutzwert von 100 Dollar in der Zukunft diskontieren (oder herabsetzen), müssen sie für die Aufgabe von 100 Dollar heute kompensiert werden.
Aber wie hoch der Abzinsungsfaktor ist (oder wie viel Zinsen gezahlt werden müssen, damit wir Geld sparen) ist eine komplizierte Frage. Denn unsere Antworten sind beinahe nie konstant. Sie merken es vielleicht an sich selbst. Wenn Sie heute 100 Euro an eine Bank geben würden, wie viel Geld würden Sie in einem Monat mit Zinsen zurückverlangen? Vielleicht 103 Euro? Und wie viel würden Sie in einem Jahr zurückverlangen? Vielleicht 110 Euro? Und wie viel würden Sie in 10 Jahren zurückverlangen? Vielleicht 150 Euro? Wenn ja, dann wäre der von Ihnen eingeforderte jährliche Zinssatz im ersten Szenario 36% (weil 12 mal 3 Euro ist 36 Euro), im zweiten 10% und im dritten 5%.
Samuelson sah dieses Problem unserer inkonsistenten Präferenzen für seine mathematischen Formeln und hielt deshalb folgende Anmerkung fest: „Der Einfachheit halber gehen wir davon aus, dass der Faktor, mit dem zukünftiger Nutzen abgezinst wird, konstant bleibt. Diese Annahme widerspricht allgemein beobachtbaren Tatsachen.”
Letzterer Satz ist eigentlich ein starkes Stück. Samuelson sagt hier ziemlich deutlich, dass sein Modell mit der Realität wenig zu tun hat. Implizit gibt er hier zu, dass sich die Psychologie des Menschen und andere wichtige Dimensionen von Kaufentscheidungen nicht in mathematische Formeln pressen lassen. Das ist auch nicht per se problematisch. Modelle sind immer eine Abstraktion und spiegeln nicht die Realität wider. Das Problem war eher, dass viele von Samuelsons Schülern, Nachfolgern und Gefolgsleuten seine Modelle übernahmen, als seien sie das Evangelium der Wahrheit.
Erst Verhaltensökonomen wie Richard Thaler (der wiederum stark beeinflusst war von Daniel Kahneman und auch viel mit ihm zusammenarbeitete) begannen diese Annahmen zu hinterfragen. In seinem Buch „Misbehaving: Was uns die Verhaltensökonomik über unsere Entscheidungen verrät” stellt er die bis dahin unhinterfragten Annahmen über den homo oeconomicus auf den Kopf. In diversen Studien, in denen Teilnehmern ähnliche Fragen gestellt wurden, die ich gerade eben aufgelistet habe (“wenn Sie heute 100 Euro an die Bank geben, wie viel würden Sie dann in einem Monat zurückhaben wollen”?) schockierte er Kollegen mit der Erkenntnis, dass unser Abzinsungsfaktor in kurzen Zeiträumen hoch, aber über längere Zeiträume jedoch extrem gering ist.
Viele seiner Erkenntnisse beeinflussten die Rentensysteme diverser Länder. In Großbritannien zum Beispiel wurde auf Grundlage von Thalers Erkenntnissen die Widerspruchsregelung eingeführt: Lange Zeit hatten viele Arbeitnehmer keine Altersvorsorge, weil sie sich für diese hätten registrieren müssen (sich hierfür bei ihrer Personalabteilung melden mussten; Anträge ausfüllen und abgeben mussten; zuvor die Entscheidung treffen mussten, auf einen Betrag des Gehalts zu verzichten und so weiter). Mit Einführung der Widerspruchsregel wurden sie automatisch in die private Rentenversicherung ihres Arbeitgebers eingeschrieben, konnten dem Beitritt aber widersprechen (mit anderen Worten, es wurde einfach, Ersparnisse in der Privatrente aufzubauen und schwerer, dies nicht zu tun. Genau umgekehrt als zuvor.)
In den USA hat Richard Thaler mit seinem Kollegen Shlomo Benartzi den „Save More Tomorrow” Plan entwickelt. Dieser beruht ebenso auf der Erkenntnis, dass unsere Präferenzen für die Zukunft inkonsistent sind. Wir sehen zwar ein, dass wir für die Zukunft sparen sollten. Aber wir finden es weniger akzeptabel, die dafür notwendigen Opfer jetzt zu bringen. Denn das Geld, was wir heute verdienen, haben wir in der Regel schon mental ausgegeben für diverse Dinge des Alltags. Allerdings finden wir es akzeptabler, uns zu verpflichten, in Zukunft mehr zu sparen. Im „Save More Tomorrow” Plan verpflichtet man sich deshalb, einmal im Jahr – zum Beispiel ab dem Monat, zu dem man in der Regel eine Gehaltserhöhung bekommt – die Sparquote zu erhöhen. Auch hier gibt es eine Widerspruchsregel: Wenn man die Sparquote nicht länger erhöhen möchte, kann man den Entschluss rückgängig machen. Aber es ist erstmal einfach, einzusteigen und ein kleines bisschen schwerer, wieder auszusteigen.
Auch wenn diese Modelle viel Erfolg hatten, sind sie in letzter Zeit auch ein wenig kontroverser diskutiert worden. Der Vorwurf lautet, vielleicht vereinfacht ausgedrückt, dass die Verhaltensökonomie immer noch zu ökonomisch ist. Mit anderen Worten, sie achtet immer noch zu sehr allein auf den Nutzen oder Nutzwert einer Maßnahme und berücksichtigt nicht tiefere ethische Probleme, die mit den Maßnahmen einhergehen. Oder anders ausgedrückt, die Verhaltensökonomie nimmt an, dass, sowie Menschen anfangen zu sparen oder Geld für die Rente zurückzulegen, das Ziel oder der Nutzwert der Intervention erreicht ist. Solange die Menschen sparen, ist alles in Ordnung. Und es ist egal, warum sie sparen.
Das in meinem Buch angesprochene EAST-Modell, das ich im Übrigen vielfach in meiner eigenen Arbeitspraxis anwende und für eine sehr solide Anwendung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse halte, hat ebenso ein wenig einen Hauch von Trickkiste. Ich halte es immer noch für erstrebenswert, dass die Bürokratie und schwerfällige Sprache (zum Beispiel in deutschen Behörden) zurückgedrängt wird. Aber es gibt auch viele Beispiele dafür, wie verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse für wirtschaftliche und politische Zwecke missbraucht wurden (Cambridge Analytica ist ein gutes Beispiel).
Gerd Gigerenzer, Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Direktor des Harding-Zentrum für Risikokompetenz an der Universität Potsdam, hat die ethische Problematik von vielen verhaltenswissenschaftlich erforschten Nudges gut zusammengefasst. Er befürchtet, dass in vielen Anwendungen von Nudges Menschen ohne es zu wissen oder verstehen, zu bestimmten Verhaltensweisen gedrängt werden. Er argumentiert, dass es sich hierbei um eine recht dunkle Vision von eigentlich demokratischen und aufgeklärten Gesellschaften handelt: Wie eine Schafherde, so moniert Gigerenzer, werden die Menschen gelenkt, das vermeintlich Richtige zu tun, ohne hierbei ihre Kompetenzen zu stärken – zum Beispiel ohne Ihnen die Möglichkeit zu geben, intrinsische Motivation zu entwickeln, oder sich über ihre Bedürfnisse zu informieren.
Diese Kritik wird von neueren Verhaltenswissenschaften, glaube ich, anerkannt und berücksichtigt. Dan Ariely zum Beispiel, der 2010 das englische Original des ins Deutsche übersetzen „Denken hilft zwar, nützt aber nichts: Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen" geschrieben hat, reichte jüngst ein neues Werk nach mit dem Titel: „the upside of irrationality" (die Vorteile von Irrationalität). Immer mehr wird anerkannt, dass unsere Instinkte, Motivationen, Fähigkeiten und Emotionen nicht irrational (und schon gar nicht dumm, obwohl das manchmal so suggeriert wurde) sind. Sie werden nur manchmal falsch angewandt oder helfen uns nicht bei typischen zeitgenössischen Problemen.
Die neueren Verhaltenswissenschaftler berücksichtigen aber nicht zuletzt deshalb immer mehr Ansätze aus der Psychologie und insbesondere der Positiven Psychologie. Letztere Strömung innerhalb der etablierten Psychologie widmet sich der Erforschung der Stärken, Kompetenzen, Fähigkeiten und positiven Motivationen der Menschen (wenn die Standard Psychologie, zumindest laut deren Kritikern wie Martin Seligmann, eher defizitorientiert ist).
In meinem Buch spreche ich sowohl traditionell verhaltenswissenschaftliche Interventionen an. Darüber hinaus berücksichtige ich auch die angesprochenen neueren Perspektiven. Für Financial Wellbeing brauchen wir beides. Die Verhaltensökonomie verdient einen Platz in unserer. Sie ist aber kein Allheilmittel.