Der mitfühlende Finanzberater

Eine große Mehrheit der Deutschen ist sich bewusst (oder zumindest intuitiv klar), dass das staatliche Rentensystem in seiner jetzigen Form nicht zukunftsfähig ist. Laut einer internationalen Studie des Aegon Center for Longevity and Retirement aus dem Jahr 2021 fühlen sich 71% der befragten Deutschen selbst dafür verantwortlich, für ein ausreichendes Einkommen im Ruhestand zu sorgen. Lediglich 5% sehen diese Verantwortung nicht bei sich. Überraschend ist, dass fast drei Viertel (73%) der Befragten wissen, dass sie für ihren Ruhestand vorsorgen müssen. Und mehr als die Hälfte (55%) gibt an, die finanziellen Herausforderungen der Altersvorsorge zu verstehen. Dennoch sparen nur 41% ausreichend für ihre Rente.

Warum diese Diskrepanz?

Die Antwort liegt in der menschlichen Natur. Rational betrachtet sollten Menschen aktiv einen Plan für ihre Altersvorsorge erstellen. Und wenn sie unsicher sind, wie sie vorgehen sollen, wäre ein logischer Schritt, einen Finanz- oder Vermögensberater zu konsultieren. Diese Berater haben tatsächlich das Potenzial, eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung der Rentenlücke zu spielen.

Und warum passiert das nicht?

Ein häufiges Hindernis ist die sogenannte "Gegenwartsverzerrung" (Gegenwartsbias). Viele Menschen haben den Wunsch, für ihre Zukunft vorzusorgen, doch sie verschieben diese Aufgabe immer wieder. Sie denken, ob sie es heute, morgen oder in der nächsten Woche tun, macht keinen Unterschied. So gerät es in Vergessenheit. Hierüber schreibe ich viel in meinem Buch.

Ein weiteres Problem ist das fehlende Vertrauen in Finanzberater. Oftmals besteht die Befürchtung, dass Berater hauptsächlich daran interessiert sind, Produkte zu verkaufen und Provisionen zu verdienen, anstatt das Beste für ihre Kunden zu wollen.

Doch ein besonders wichtiger, oft von Finanzberatern selbst übersehener Aspekt sind die Emotionen.

Viele Menschen meiden das Thema Altersvorsorge aufgrund von Gefühlen wie Scham, Vermeidung, Hoffnungslosigkeit oder Verzweiflung. Emotionale Intelligenz in der Finanzberatung kann hier den Unterschied machen. Vanguard hat beispielsweise festgestellt, dass emotionale Kompetenzen doppelt so wichtig sind wie funktionale und ethische Fähigkeiten.

Ein zentrales Gefühl, das viele Menschen in Bezug auf ihre Finanzen erleben, ist Scham. Zum Beispiel:

  • Scham darüber, nicht genug gespart zu haben, obwohl man schon in einem fortgeschrittenen Alter ist.

  • Scham darüber, nicht genug über Finanzen und Investitionen zu wissen und sich deshalb überfordert zu fühlen.

  • Scham darüber, in der Vergangenheit finanzielle Fehler gemacht zu haben, die die aktuelle Altersvorsorge beeinträchtigen.

  • Scham darüber, anderen gegenüber zuzugeben, dass man sich Sorgen um die finanzielle Zukunft im Alter macht.

  • Scham darüber, finanzielle Hilfe oder Beratung in Anspruch nehmen zu müssen, weil man das Gefühl hat, man sollte es alleine schaffen können.

Wie Brené Brown in ihrem Buch "Atlas of the Heart" betont, gedeiht Scham in Geheimhaltung, Stille und Urteil. Das Ergebnis von Scham ist das Gefühl, fehlerhaft zu sein und Liebe oder Zugehörigkeit nicht wert zu sein. Scham motiviert nicht zu positiven Veränderungen. (In meiner fiktiven Expertenrunde, führte ich ein Gespräch mit Briony Bishop, einer Schülerin von Brené Brown, über die Schwierigkeit, Rücklagen aufzubauen.)

Brene Brown über Scham

Ein einfühlsamer Finanzberater erkennt diese Emotionen und weiß, wie man damit umgeht. Er oder sie zeigt Mitgefühl und Verständnis, ohne zu urteilen. Ein Schlüsselwerkzeug hierfür ist Empathie. Ein empathischer Berater kann beispielsweise auf die Scham eines Kunden reagieren, indem er ihm versichert, dass es nie zu spät ist, einen Plan zu erstellen, oder dass jeder Mensch das Recht hat, Fragen zu stellen und Unterstützung zu suchen.

Nachdem ein solcher Berater das Vertrauen gewonnen und Verständnis für die emotionale Lage des Kunden gezeigt hat, kann er Hoffnung vermitteln. Er hilft dem Kunden, realistische Ziele zu setzen, Wege zu finden, diese zu erreichen, und an sich selbst zu glauben.

Dieser Ansatz in der Finanzberatung revolutionär. Er geht über das traditionelle, produktorientierte Modell hinaus und betont die menschliche Komponente. Es ist allerdings die Art Finanzberatung, die in USA und GB immer populärer wird — wie man an Einrichtungen wie Money Quotient, Humans Under Management und Brian Portnoy’s Shaping Wealth sieht.

Einige Berater könnten sich unwohl fühlen, da sie sich eher auf technische Aspekte konzentrieren. Aber dieser Ansatz bietet langfristigen finanziellen Erfolg. In einer Welt, in der Online-Vergleichsportale wie Check24 dominieren, müssen Finanzberater einen menschlichen Mehrwert bieten. Es geht nicht nur darum, Produkte zu verkaufen, sondern echte Beziehungen aufzubauen und Menschen in einer der wichtigsten Phasen ihres Lebens zu unterstützen.

Das ist das, was ich menschenzentrierte Beratung nenne. Es reicht nicht aus, kundenzentriert zu sein. Man muss menschenzentriert sein!

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